Datum 30.07.2010
China »Immer
noch ein Tropfen Essig!«
Wieviel Kritik verträgt
China? Ein Gespräch mit Pekings Vize-Außenministerin Fu Ying.
DIE ZEIT: Madame Fu Ying, wenn Sie nach Europa kommen, besuchen
Sie dann einen Kontinent der Zukunft oder der Vergangenheit?
Fu Ying: Beides. Europa ist sehr in der
Vergangenheit verankert, mit seiner Literatur etwa, aber auch mit seinem Beitrag
zur Industrialisierung. Aber es gehört auch zur Zukunft. Europa ist führend in
der Welt beim Klimaschutz, bei den erneuerbaren Energien. Und die EU ist ein solch
kühnes Unterfangen für einen Kontinent, der über Jahrhunderte in Kriege, Kämpfe
und Konflikte verstrickt war.
ZEIT: Viele Asiaten meinen, Europa falle
zurück.
Fu Ying: Es überrascht mich nicht, dass manche
Leute das so empfinden. Wenn Sie als chinesischer Tourist in Peking vom brandneuen
Terminal 3 abfliegen und in Heathrow oder de Gaulle landen, dann werden
Sie wahrscheinlich sagen: »Wieso ist dieser Flughafen so alt?«
Solche Vergleiche gibt es.
Trotzdem, ich glaube nicht, dass die Chinesen der Meinung sind, Europa falle
ökonomisch zurück. Ihre Wirtschaftsleistung pro Kopf ist zehnmal so hoch wie in
China; der Lebensstandard,
der Lebensstil, die Lebensqualität – alles ist besser. Wir werden Sie noch sehr
lange nicht einholen können.
Nur kein Kader-Kauderwelsch! Das scheint Fu
Yings oberste Maxime zu sein. Temperamentvoll stürzt sie sich in das Gespräch,
will diskutieren, streiten. 1953 in der Inneren Mongolei geboren, verkörpert
die stellvertretende Außenministerin den neuen Pekinger Beamtentyp:
selbstbewusst und weltläufig. Die Europäer, klagt sie, hätten ein falsches Bild
von China. Wenn sie bei der Modernisierung helfen wollten, herzlich willkommen!
Voran gehe es aber auch ohne sie. Sagt’s und lacht herzlich.
ZEIT: Treffen Sie in Europa und in China auf
die gleiche Dynamik?
Fu Ying: Ein Land wie Deutschland ist
wirtschaftlich noch immer dynamisch. In China gibt es kaum eine Provinz, die
nicht mit Deutschland zusammenarbeitet. Wenn Sie ein Produkt aus Europa kaufen,
dann ist der erste Eindruck einer von Verlässlichkeit und guter Qualität.
Was
den Leuten ein Gefühl von Stagnation gibt, ist aber ein Stereotyp im Verhalten
der Europäer. In den achtziger Jahren habe ich als Übersetzerin gearbeitet. Bei
offiziellen Treffen waren die Menschenrechte häufig ein Thema. Unsere Besucher
brachten Namenslisten mit. Dreißig Jahre später hat sich China
weiterentwickelt, so viel hat sich verändert! Der Schutz der Menschenrechte
wurde 2004 in die Verfassung aufgenommen. Unsere Gesetze und Vorschriften sind
dem angepasst worden. Aus meiner Sicht hat sich sowohl die Haltung zu den
Menschenrechten als auch die Wirklichkeit grundlegend verändert.
Aber
die europäischen Delegationen, die nach China kommen, haben immer noch die
gleiche Haltung, sie klagen uns an und befragen uns in herablassender Weise. So
gut wie nie höre ich, bei den Menschenrechten habe es Fortschritte gegeben. In
China stellen Einzelne Forderungen auf, die unmöglich erfüllt werden können.
Doch diese politischen Extremisten scheinen das ganze Bild zu prägen, das sich
europäische Länder von den Menschenrechten in China machen.
ZEIT: Natürlich erkennen wir Europäer an,
welche Fortschritte China erzielt hat. Dennoch finden wir es nicht akzeptabel,
dass Ihre Regierung den Bürgern die Meinungsfreiheit vorenthält, dass sie ihnen
nicht erlaubt, Parteien frei zu gründen.
Fu Ying: Wenn Sie davon reden, China tue dieses
oder jenes nicht, dann legen Sie Ihre eigenen Maßstäbe an. Ich frage mich, ob
Ihnen klar ist, wo Sie in Sachen Menschenrechte zu Zeiten der frühen
Industrialisierung standen, in denen China erst jetzt ist. Inzwischen haben Sie
einen starken Sozialstaat geschaffen, Ernährung und Unterkunft sind für Sie
seit Langem kein Problem mehr. Meine Generation hat noch Hunger erlebt, es ist
nicht lange her, dass wir die Mangelwirtschaft überwunden haben. Wenn Sie China
immer an Ihren Maßstäben messen und wenn Sie erwarten, China werde eines Tages
wie der Westen sein, dann wird diese Hoffnung Sie immer wieder trügen.