Helmut Schmidt erklärt die Welt China ist ein Eroberer ohne Gewalt
Der Tagesspiegel
02.02.2012 09:52 Uhrvon Peter von Becker
Nie ohne Zigarette:
Helmut Schmidt. - Foto: dapd
Der Weltpolitiker und Altbundeskanzler Helmut Schmidt
spricht in Berlin über China. Was lehrt er die Deutschen?
Er
sei der wohl letzte lebende Deutsche, der noch mit Mao gesprochen hat. Gleich
so auratisch wird Altbundeskanzler Helmut Schmidt
am Dienstagabend im Berliner Allianz-Forum am Pariser Platz vorgestellt. Da sitzt
der 93-jährige Weltpolitiker in seinem nun auch schon fast weltbekannten
Rollstuhl in der überfüllten mächtigen Glasrotunde – hinter sich eine riesige
Plakatwand, und über seinem weißhaarigen Haupt prangt die Schlagzeile „Magnet China“.
Dieser
Magnet leuchtet auf dem Plakat mindestens doppelt symbolisch, mal goldgelb, mal
rot und auch ein wenig schwarz an den Hufen.
Dem
Magneten folgt auch die regierende Bundeskanzlerin, die gerade wieder nach Peking reist. Ob er Frau Merkel einen
Rat auf den Weg geben möchte, wird ihr Vorvorvorgänger gefragt. „Nein“, lautet Helmut
Schmidts Antwort ein wenig brüsk. So kurz macht er es sonst nicht, aber mit
einem Anflug von Lächeln fügt er noch hinzu: „Das muss sie schon selber wissen.“
Es
ist die Auftaktveranstaltung einer Dialogreihe zum soeben mit dem China Philharmonic Orchestra im Konzerthaus Berlin begonnenen „Chinesischen
Kulturjahr in Deutschland“. Das Eröffnungskonzert hieß „Träume unterm Regenbogen“. Aber jetzt mit Schmidt und
seinem Gesprächspartner Gu Xuewu,
einem aus China
stammenden Politikwissenschaftler und Direktor des Center for
Global Studies an der Universität Bonn, soll es um Unverträumteres
gehen: um „Perspektiven und
Herausforderungen Deutschlands und Chinas im 21. Jahrhundert“. So haben es die
drei für das Dialogprogramm verantwortlichen Stiftungen von Bertelsmann, Robert
Bosch und Körber formuliert.
Wenn
es um globale Herausforderungen geht, gilt der Altkanzler in Deutschland selbst
bei einer Mehrheit der Ungläubigen inzwischen als nahezu göttliches Orakel.
Doch auch unter chinesischen Bloggern, denen die Robert-Bosch-Stiftung eine
Onlineplattform für Fragen zur Verfügung gestellt hat, genießt „Großväterchen
Schmidt“, wie sie ihn nennen, offenbar einige Verehrung. Und Schmidt will sie
nicht enttäuschen.
Er
ist, unterstützt von (chinesischem?) Tee, seinen Zigaretten und zwei
Kopfhörern, in blendender Form. Das heißt, Schmidt spricht über Jahrhunderte
und Jahrtausende chinesischer, europäischer, japanischer, nord- und
südamerikanischer Historie. Er zitiert vielerlei Geister von Konfuzius bis Deng
Xiaoping, den er wegen der Wende von der
Kulturrevolution zum Staatskapitalismus den „erfolgreichsten kommunistischen Führer der Weltgeschichte“
nennt. Oder er schlägt einen Bogen von einem die halbe Welt mit einer
ungeheuren Flotte umsegelnden chinesischen Admiral des 14. Jahrhunderts zur
heutigen Pekinger Außenpolitik, um zu erläutern, warum er die Chinesen trotz
allem Chauvinismus und ihren Rohstoffaufkäufen in Asien und Afrika für keine „imperialistische“
oder gar kolonialistische Weltmacht hält.
„Die Chinesen erobern
die Welt ohne militärische Gewalt. Das könnte man auch den Amerikanern als
Vorbild empfehlen“, fügt Schmidt süffisant an, „wenn man das wollte.“ Ob er trotzdem keine Sorge habe,
fragt „Handelsblatt“-
China-Korrespondent Frank Sieren als Moderator, dass
die Chinesen immer mehr Firmen und Beteiligungen im Westen, in Europa erwürben?
„Nein“, es gebe nur
noch globalen Wettbewerb, keine national autarken Volkswirtschaften.
Apropos
Europa, meint Schmidt, wie man Griechenland als „Wiege unserer Zivilisation“ heute oft behandle, das lasse „Respekt“ – Pause – „und Herz“ vermissen.
Auf die Nachfrage, ob er dafür sei, dass China in Deutschland investiere: „Ja, wir können
Kapital gebrauchen.“ Ihm sei das lieber, „als wenn die Amerikaner mit ihren scheiß Hedgefonds hier
investieren!“
Und
die Menschenrechte? Obwohl der Gesprächsanlass ein Kulturjahr ist, redet hier
niemand von aktueller Kultur. Oder gar von Künstlern. Also fällt auch nicht der
Name Ai Weiwei oder der des noch immer inhaftierten Literaturnobelpreisträgers
Liu Xiaobo. Im Dialog mit Professor Gu aus Bonn spricht Schmidt viel von Konfuzius, und Herr Gu stellt ganz neokonfuzianisch die sozialen „Menschenpflichten“
den individuellen Menschenrechten gegenüber. Schmidt indes erwähnt weder Folter
noch Todesstrafe, er kritisiert nur den mangelnden Sozialstaat in China, glaube
aber, Chinas Führung werde das Land „in Richtung
Sozialstaat“ entwickeln. Dass „ausgerechnet die
Deutschen“ China demokratischen Nachhilfeunterricht erteilen sollten, halte er
allerdings für „ekelhafte
Überheblichkeit“. Als Gu Peking immerhin zu mehr
Dialogbereitschaft mit dem Dalai Lama auffordert, schaut der Altkanzler
erstaunt.
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Angeblich
wollen mehrere tausend chinesischer Blogger von Schmidt noch wissen, was das
Geheimnis seiner Langlebigkeit sei. „Vermutlich sind es
die Gene“, antwortet er ein wenig altbübisch grinsend, „man könnte auch auf Hamburgisch sagen: Der Kerl ist ein
zähes Aas.“