«China bewirkt mit seinem Druck genau
das Gegenteil»
Aktualisiert am 12.12.2012
Immer
mehr Selbstverbrennungen in Tibet: Tenzin Kelden Losinger, Schweizerin und Präsidentin des Vereins Tibeter
Jugend in Europa, über Hintergründe und Nachhaltigkeit dieser Taten. Die
Reaktion Pekings darauf nennt sie zynisch.
Protest
im Exil: Demonstration von Tibetern vor dem UNO-Hauptquartier in New York.
(Foto: 10. Dezember 2012)
Bild: Reuters
Frau Losinger, heissen Sie, als junge Vertreterin von Tibet im Exil,
Selbstverbrennungen als Mittel des Widerstands gut?
Das ist ein schwieriges Thema. Ich muss sie anerkennen als ein Zeichen, wie
unerträglich die Situation in Tibet sein muss. Wenn sich die 17-jährige Nonne Sangay Dolma anzündet mit einer Botschaft in der Hand, dass
Tibet eine freie und unabhängige Nation sei, ist das keine verwirrte Tat,
sondern ein bewusster Akt. Und offensichtlich ein starkes Signal an die
Weltöffentlichkeit sowie an die Führung in Peking.
Aber finden Sie es gut, dass sie das tut?
Ich finde es sehr bedauerlich und hoffe natürlich, dass diese
Selbstverbrennungen nicht mehr als letztes Ausdrucksmittel angewendet werden.
Aber gerade in der tibetischen Jugend ist die Not und
das Bedürfnis nach Widerstand gross. Nicht alle
zünden sich an. Es kam kürzlich zu Massenprotesten von Schülern, die kaum 15
Jahre alt waren. Sie protestierten gegen die sogenannte Sinisierung,
also die erzwungene Ersetzung tibetischer Kultur durch chinesische Sprache und
Geschichte in den Schulen. Der Zwang zum Mao-Rezitieren in der Schule.
Das klingt nach Methoden, die in China selbst seit der
Kulturrevolution nicht mehr angewandt werden. Hat denn Tibet keinen Anteil an
der Modernisierung von China?
Nicht in den Augen der in ihrer Heimat lebenden Tibeter. Sie fühlen sich
ausgeschlossen und an den Rand gedrängt. Der Aufschwung findet nicht für sie
statt.
Aber nochmals: China bezeichnet die Selbstverbrennungen
als «verkappten Terrorismus» und lässt Lehrer und Mönche verhaften, weil sie
die Jugendlichen zum Selbstmord aufstachelten. Das sei letztlich Mord, sagt die
chinesische Justiz. Ist das so falsch?
Es ist zynisch. Die Familien und Lehrer dieser jungen Menschen würden sie doch
an den Selbstverbrennungen hindern, wenn sie zuvor von ihnen wüssten! Diese
neue «Anti-Terrorismus»-Politik ist reine Willkür. So kann die chinesische
Justiz nach Gutdünken Oppositionelle verhaften und sie als angebliche Mörder
einsperren und anklagen.
Die jungen Leute gehören schon zur etwa fünften
Generation seit Tibets Besetzung. Warum ist bei ihnen der Widerstand immer noch
so gross?
Das ist tatsächlich erstaunlich. Es zeigt, dass China mit seinem Druck genau
das Gegenteil bewirkt. Dass die Sinisierung die
tibetische Identität eher stützt als auslöscht. Wenn diese Menschen
demonstrieren oder sich umbringen, dann tun sie das ja für jemanden, den sie
noch nie mit eigenen Augen erblickt haben: den Dalai Lama.
Aber bringt dieser Widerstand wirklich etwas? Fördert er
nicht eine Kultur der totalen Verzweiflung?
Ich frage mich natürlich oft, wie nachhaltig das ist. Aber es ist auch
offensichtlich, dass die Kommunistische Partei Chinas den Widerstand fürchtet
und das Bild, das er der Weltöffentlichkeit vermittelt. Das hat natürlich auch
Folgen für Tibet. Eine davon ist, dass keine unabhängige
Berichterstatter in Tibet zugelassen sind. Uns wird oftmals vorgeworfen, dass
wir subjektiv argumentieren. Wir würden eine objektive Einschätzung der Lage ja
begrüssen, aber wie soll diese zustande kommen, wenn
China Tibet praktisch absperrt? Hu Jintao, der
Ex-Generalsekretär der KP, ist auch nach dem Regierungswechsel in China immer
noch mächtig. Und er steht für eine Politik der brutalen Unterdrückung von
Tibet.
Die tibetische Exilgemeinde, zu der Sie gehören, ist
meist gut integriert und erfolgreich. Ist das nun gut oder schlecht für den
tibetischen Widerstand?
Einerseits hilft das natürlich, weil diese Vereine sehr professionell
organisiert sind. Andererseits merken wir natürlich auch, dass wir uns mit
jeder neuen Generation weiter von Tibet entfernen. Dass es immer mehr Exilanten
gibt, die nie ein freies Tibet erlebt haben.
Wie halten Sie persönlich denn Kontakt? Können Sie noch
nach Tibet reisen?
Ich selber habe es nie versucht, ich war nur in Indien, wo der Dalai Lama lebt.
Ich bekäme wohl kaum eine Einreisegenehmigung. China ist da völlig willkürlich.
Sogar nicht-tibetische Schweizer dürfen oft nicht einreisen. So müssen wir
individuelle oder familiäre Kontakte pflegen. Meine Mutter telefoniert manchmal
mit einigen Bekannten. Eine traurige Sache. Sie muss sich dann nämlich auf
Small Talk beschränken, weil die Telefonate natürlich abgehört werden.
Was gibt es denn für Perspektiven? Befürchten Sie nie,
in 20 oder 30 Jahren immer noch Interviews über Tibets Elend geben zu müssen?
Die einzige Perspektive wäre, dass es in China dereinst zu einer
Selbstreflexion darüber kommt, was dieses Land seinem Nachbarland angetan hat.
Aber sehr optimistisch bin ich nicht. Manche Sinologen sagten mir schon, dass
selbst ein demokratisches China Tibet nie aufgeben werde.
Woher kommt das? China betreibt sonst ja seit
Jahrhunderten keine territoriale Expansionspolitik mehr. Warum ist das bei
Tibet anders?
Ich würde bestreiten, dass China keine territoriale Expansionspolitik mehr
betreibt. Die Tibeter stellen nur eine von vielen unterdrückten Minderheiten
dar. Die Tatsache, dass China Tibet besetzt hält und Taiwan immer wieder
militärisch bedroht, zeigt deutlich, dass Peking an der Expansionspolitik
festhält. Und in Tibet läuft vieles ab, von dem die Welt nichts weiss. Es geht
ja nicht nur um kulturelle Unterdrückung. In Tibet entspringen viele für China
wichtige Flüsse, die Peking nun kontrolliert. Tibet wird missbraucht, um
Atommüll auszulagern. Arbeiterheere und Fabriken werden nach Tibet versetzt.
Chinesen werden gezwungen, dort zu arbeiten. Alle Probleme des modernen China –
Überbevölkerung, Umweltverschmutzung, Armut – werden quasi nach Tibet entsorgt.
Und dagegen helfen Demonstrationen?
Es beginnt immer mit dem Widerstand auf der Strasse.
Das zeigt uns ja auch der arabische Frühling. Aber tatsächlich wird sich nichts
ändern, solange nicht auch in China die ausgebeuteten Gruppen, zum Beispiel die
Bauern, sich wehren.
Gibt es eine friedliche Perspektive für die beiden
Länder?
Wir bieten immer wieder den friedlichen Dialog an, aber China lehnt ihn ab. Das
Ende kann nur darin bestehen, dass China abzieht. So, wie die Sowjetunion
damals aus Osteuropa abzog. Erst dann wird Tibet und sein Volk in Freiheit
leben können. Aber das heisst nicht, dass wir weniger
motiviert sind, weiterhin für unser Land zu kämpfen. Im Gegenteil!