25.
Dez. 2012
"China
vergewaltigt Tibet religiös und kulturell"
Der Europa-Gesandte des Dalai Lama, Kelsang Gyaltsen, hält die Exilregierung für machtlos, die Selbstverbrennungen junger Tibeter zu stoppen. Er glaubt, dass die EU Druck auf China ausüben könnte.
Foto:
Amin Akhtar Kelsang Gyaltsen, der Europa-Sondergesandte des Dalai Lama:
"Wir wollen nicht, dass sie sich selbst verbrennen, aber wir können ihnen
das Recht dazu nicht absprechen"
Vor allem junge Menschen protestieren mit Selbstverbrennungen gegen die Unterdrückung Tibets durch China. Erst Mitte Dezember gab es einen neuen solchen Vorfall: 16 Jahre alt war die junge Frau, die als Ausdruck ihres Widerstandes den Freitod wählte. Kelsang Gyaltsen, der Europa-Sondergesandte des Dalai Lama, zeigt sich im Interview mit der "Welt" zutiefst besorgt über die seit 2009 stark steigende Zahl der Selbstverbrennungen.
Die Welt: Seit März 2011 haben sich laut der
Tibet Initiative Deutschland mehr als 90 Tibeter selbst angezündet. Im November
war die Zahl besonders hoch. Warum ist sie stark gestiegen?
Kelsang Gyaltsen: Zuerst einmal muss
man festhalten, dass die Selbstverbrennungen in Tibet Akte des politischen
Protests gegenüber der Unterdrückungspolitik und der kulturellen und religiösen
Vergewaltigung des tibetischen Volkes durch die chinesische Regierung sind. Und
diese drastische Form des Protestes veranschaulicht auch die Notlage der
Tibeter und den Grad ihrer Verzweiflung.
Zugleich
demonstrieren die Selbstverbrennungen die feste Entschlossenheit der Tibeter in
Tibet, auf konkrete und greifbare Verbesserungen ihrer Situation zu dringen.
Die demokratisch gewählte Führung Tibets, die gewählt wurde, nachdem der Dalai
Lama im Mai 2011 sein Amt als politischer Anführer niedergelegt hatte, hat
wiederholt an die Tibeter appelliert, nicht zu diesen drastischen Protesten zu
greifen. Aber zu unserer großen Trauer haben sich die Selbstverbrennungen
fortgesetzt.
Protest
Tibeter trauern nach erneuten
Selbstverbrennungen
Tibet-Konflikt
Dalai Lama über den chinesischen
Führungswechsel
Indien
Exil-Tibeter beraten über
Selbstverbrennungen
Die Welt: Warum?
Gyaltsen: Offensichtlich muss es eine deutliche
Verbesserung der Menschenrechtslage in Tibet geben, damit diese
Selbstverbrennungen aufhören. Die Möglichkeit, eine solche herbeizuführen, hat
allein die chinesische Regierung, nicht der Dalai Lama oder die tibetische
Regierung im Exil. Auch die internationale Gemeinschaft und die Bundesrepublik
Deutschland können eine aktive, konstruktive Rolle spielen, weil sie gute
Beziehungen zu China haben.
Die Welt: Sie waren gerade zu Gesprächen im
Auswärtigen Amt und im Kanzleramt. Sind Sie zufrieden mit den Ergebnissen?
Gyaltsen: Ich bin sehr glücklich darüber, dass
ich Zugang zu solchen Gesprächen habe. In diesen Gesprächen begegnet mir großes
Interesse: Die deutsche Bundesregierung ist besorgt über die Lage in Tibet, und
sie versucht, in ihren Beziehungen mit China das Thema zu besprechen.
Allerdings bis heute mit wenig Erfolg. Ich versuche, meine Gesprächspartner in
Europa darauf aufmerksam zu machen, dass – obwohl sie die
Menschenrechtssituation Tibets thematisieren – sich diese in den vergangenen 15
Jahren immer mehr verschlechtert hat.
Wir müssen
versuchen, effektivere Wege zu finden, um diese zu verbessern. In diesem Punkt
gibt es immer noch Defizite. Wenn die Europäische Union und alle ihre
Mitglieder die gleiche Position und Politik in Menschenrechtsfragen vertreten
würden, wäre das viel effektiver und wirkungsvoller. Aber anscheinend ist es
schwierig, die geschlossene Position einzunehmen gegenüber einem Land wie
China, das wirtschaftlich für die meisten Regierungen so wichtig ist.
Die Welt: Selbsttötung widerspricht dem
gewaltlosen Ansatz, den der Dalai Lama verkündet. Warum wählen einige Tibeter
dennoch diese Protestform?
Gyaltsen: Ich glaube, hier muss man
grundsätzlich festhalten, dass der Widerstand gegen Willkürherrschaften,
Diktaturen und Unrechtsregime ein allgemein anerkanntes Recht ist. Im Fall von
Tibet führt das tibetische Volk auf die Anordnung ihres religiösen Oberhauptes
hin einen gewaltlosen Kampf um echte Autonomie. Im Falle von diesen
Selbstverbrennungen ist es ganz klar, dass die Intention der Tibeter, die sich
selbst verbrennen, nicht ist, Chinesen zu töten – sondern einen Wechsel der
chinesischen Politik gegenüber Tibet herbeizuführen.
Vor diesem
Hintergrund kann kein Tibeter im Exil den Tibetern in Tibet das Recht
absprechen, gegen dieses Unrechtsherrschaft Widerstand zu leisten. Wir, der
Dalai Lama und die tibetische Regierung, wollen nicht, dass sie sich selbst verbrennen,
aber wir können ihnen das Recht dazu nicht absprechen. Wir müssen ihnen eine
Alternative anbieten, aber das können wir nicht.
Die Welt: Haben Sie Hoffnung, dass sich unter Xi Jinping, dem neuen
Parteichef von Chinas Kommunistischer Partei, die Tibet-Politik verbessern
wird?
Gyaltsen: Wer sich für eine Politik der
Gewaltlosigkeit entscheidet, der setzt immer auf Vernunft. Und im Falle von
Tibet hat der Dalai Lama auf ein striktes, gewaltloses Vorgehen gesetzt. Und
damit hat er auch klargemacht, dass er die Hoffnung hat, dass sich China eines
Tages wandeln wird und dass irgendwann eine Führung an der Macht sein wird, mit
der man im Gespräch eine einvernehmliche Lösung finden kann.
Die Welt: Ist die Hoffnung jetzt realer?
Gyaltsen: Es ist zu früh, darauf eine klare
Antwort zu geben. Aber was feststeht ist, dass der Widerstand der Tibeter in
Tibet die Dringlichkeit und die Dimension der Probleme in Tibet deutlich
vorgeführt hat. Vor diesem Hintergrund kann die chinesische Führung nicht
ignorieren, dass es in Tibet Probleme gibt.
Die Welt: Befürchten Sie, dass wegen der
fehlenden Ergebnisse der Politik des Dalai Lama jemand mit einem gewaltbereiten
Ansatz Tibeter hinter sich versammeln könnte?
Gyaltsen: Das glaube ich persönlich nicht. Ich
glaube, solange der 14. Dalai Lama lebt, wird die große Mehrheit des
tibetischen Volkes am gewaltlosen Vorgehen festhalten. Aber wenn der Dalai Lama
eines Tages nicht mehr lebt, kann niemand sagen, für welchen Weg sich die
Tibeter entscheiden werden.
Die Welt: Haben Sie Angst davor?
Gyaltsen: Ich habe große Angst davor. Wenn
nicht zu Lebzeiten des Dalai Lama eine einvernehmliche Lösung gefunden werden
kann, befürchte ich sogar, dass die Tibeter vor der Wahl stehen:
Gewaltlosigkeit oder Freiheit. Wenn sie vor dieser Wahl stehen, dann bin ich
mir sicher, dass sie sich für Freiheit entscheiden werden.
Kelsang Gyaltsen,
1951 in Tibet geboren, ist Sondergesandter des Dalai Lama für Europa. 1959 war
Gyaltsen mit seiner Familie erst nach Indien und dann in die Schweiz geflohen.
Seit 1985 ist er in der tibetischen Politik aktiv.