15.07.2013
TIBET
Knoten im
Herzen
Ein hoher
KP-Funktionär hat ein Enthüllungsbuch über die Verbrechen der Chinesen
geschrieben. Noch ahnen seine Genossen nicht, dass er zur Opposition
übergelaufen ist.
Die für die
chinesische Regierung verheerenden Dateien finden sich auf drei CDs: Sie
enthalten die Abrechnung eines Tibeters, der an die Ziele der Kommunistischen
Partei Chinas geglaubt und im Apparat Pekings Karriere gemacht hat.
SPIEGEL-Redakteur Andreas Lorenz traf den landesweit bekannten Funktionär
heimlich im Restaurant einer chinesischen Provinzstadt, damit seine Anonymität
gewahrt bleibt. Sein Text über die Unterdrückung seines Volkes soll, so hofft
er, als Buch möglichst im Westen erscheinen und so den Machthabern in Peking
Druck machen.
Dorjee Rinchen, 58, stand sehr
früh auf an diesem 23. Oktober 2012, dem letzten Tag seines Lebens. Im Kloster Labrang drehte er die buddhistischen Gebetsmühlen, dann
kehrte er zu seiner Hütte zurück, räumte auf, zog erneut zum Kloster.
Auf der
Hauptstraße des Ortes Xiahe in der chinesischen
Provinz Gansu, in der Nähe einer Polizeiwache,
übergoss sich der tibetische Bauer mit Benzin und zündete sich an. Mit Handys
aufgenommene Bilder zeigen ihn in Flammen die Straße hinunterlaufen, bis er
zusammenbricht.
Sofort sind
Polizisten und Soldaten zur Stelle, sie rangeln mit Passanten, die Dorjees verkohlten Leichnam zu seinem Haus tragen wollen,
wie es tibetischer Brauch ist. Schließlich geben die Uniformierten nach.
Dorjee ist einer von mehr als hundert Tibetern, die sich
seit März 2011 selbst angezündet haben, um gegen die chinesische Herrschaft in
Tibet zu protestieren. Ein anderer, der sich ein paar Tage später ebenfalls das
Leben nahm, hinterließ einen Brief, der die Gedankenwelt der Unglücklichen
zusammenfasst: "Es gibt keine Freiheit in Tibet, Seine Heiligkeit der
Dalai Lama darf nicht nach Hause zurückkehren. Der Panchen
Lama sitzt im Gefängnis."
Die Stimmung
ist verzweifelt auf dem Dach der Welt. Nie zuvor haben so viele Tibeter durch
Selbstverbrennung ihr Leben geopfert, um die Welt auf ihr Schicksal aufmerksam
zu machen. Aber nicht alle glauben, dass dies der richtige Weg ist. Ein paar
hundert Kilometer vom Kloster Labrang entfernt sitzt
ein hoher KP-Funktionär und schüttelt den Kopf. Die Selbstverbrennungen, sagt
er, seien eine "Überreaktion, eine zu radikale Tat. Der Buddhismus ächtet
Selbsttötungen".
Trotzdem,
sagt er, könne er die Motive verstehen. Die Situation in seiner Heimat sei
dramatisch. "Die wirtschaftliche Lage, der Lebensstandard, die Kultur und
die Bildung in Tibet sind viel besser geworden." Aber der Preis, den die
Regierung für diese Entwicklung von den Tibetern fordere, sei zu hoch; Peking
versuche, sie mit Gewalt zu disziplinieren: "Die Kontrolle ist stark, die
Freiheit begrenzt."
Der Mann
sitzt im Zentrum der KP in Chinas Hauptstadt. Er ist nicht nur in Tibet,
sondern in ganz China bekannt, niemand verdächtigt ihn, ein Oppositioneller zu
sein. Er ist selbst einer der Privilegierten, einer, der lange an das
versprochene Ziel eines sozialistischen China geglaubt hat, in dem nicht nur
die Han-Chinesen, sondern auch die Tibeter und alle Volksgruppen ein besseres
Leben führen würden.
Nun will er
Widerstand leisten: "Ich bin ein Tibeter, ich arbeite in der Regierung.
Ich habe die Autorität zu beschreiben, was wirklich passiert ist", sagt
er.
Von Jugend
an dient er der chinesischen Regierung - wie viele Tibeter, die sich damit
abgefunden haben, dass Peking seit dem Einmarsch der chinesischen Armee 1950
ihr Land regiert. Dazu gehören Parteifunktionäre, Polizisten und
Propagandisten, Journalisten und Ingenieure. Sie verhalten sich so, wie
Menschen es tun, wenn sie unter fremder Herrschaft in Ruhe und Frieden leben
wollen: Sie passen sich an, beten die Parteiparolen nach, genießen den wachsenden
Wohlstand und fühlen sich am Ende oft elend.
Deshalb hat
sich dieser Zeitzeuge hingesetzt und die jüngere Geschichte Tibets so
aufgeschrieben, wie er sie erlebt hat. Er konzentriert sich auf das, was die
Propagandisten und Geschichtsschreiber des Systems verschweigen oder
beschönigen: "Es war und ist alles viel schlimmer als im Westen
bekannt."
Er ist
entschlossen, anonym zu bleiben, solange es geht. "Ich will meinen Namen
nicht nennen, ich möchte nicht, dass Sie meinen Beruf erwähnen, und meinen
Wohnort dürfen Sie nur allgemein beschreiben", sagt er.
Das Buch
soll im Ausland erscheinen, das ist sein Ziel, anders ginge es natürlich auch
nicht. Wenn herauskommen würde, dass er, der angesehene Funktionär, in Wahrheit
ein tibetischer Dissident ist, der das "Schicksal der Tibeter" mit
dem der Juden unter den Nazis vergleicht, wäre es sehr schnell mit dem guten
Leben vorbei: Ihm drohen Gefängnis und womöglich die Todesstrafe.
Das Buch ist
in Mandarin verfasst, der Sprache der Herrscher in Peking. Der Autor will, dass
möglichst viele sein Volk verstehen, das für eine fremde Utopie "in
Blutlachen und Fegefeuer gestürzt" worden sei.
Dabei waren
manche Tibeter anfänglich durchaus froh, als die Chinesen in Tibet
einmarschierten, verhießen die neuen Herren doch Modernität und Wohlstand. Die
Kommunisten unter Mao Zedong, so glaubten sie, würden ihnen helfen, sich von
einer brutalen Mönchsdiktatur zu befreien. Das Leben der Bevölkerung Tibets
unter der Knute von Klöstern und Adligen war hart. Die frommen Nichtstuer
knechteten ihre Untertanen, hielten sie wie Leibeigene und züchtigten sie mit
Peitschen.
Die Stimmung
wandelte sich jedoch, als die chinesische Regierung unter Mao Zedong ihr
Versprechen nicht einhielt, den Tibetern auch weiterhin ihre Traditionen und
ihren Glauben zu belassen. Besonders verheerend wirkte sich die Kollektivierung
der Landwirtschaft aus. Tibetische Nomaden wurden in sogenannten Volkskommunen
sesshaft gemacht, ihr traditioneller Lebenswandel wurde zerstört. So kam es
schon in den fünfziger Jahren immer häufiger zu Unruhen unter den Tibetern.
In der
Großen Proletarischen Kulturrevolution (1966 bis 1976) fielen Rote Garden,
darunter auch viele Tibeter, über ihre vermeintlich "revisionistischen"
und "imperialistischen" Landsleute her. Tausende Mönche wurden
erschlagen oder in Lager gesteckt, uralte Reliquien zerstört. Artillerie machte
Hunderte Klöster dem Erdboden gleich.
Die
KP-Funktionäre wollten die Kultur ihrer Untertanen zerstören: Die Tibeterinnen
mussten beispielsweise Hosen tragen wie die Han-Chinesinnen - Helfer schnitten
ihnen die Zöpfe ab. Clan-Älteste und Äbte wurden zur Umerziehung in Lager
gebracht, wo sie täglich die Anweisungen Maos studieren mussten.
Aufstände schlug
Chinas Militär blutig nieder. Nachdem Mönche 1956 einen Unteroffizier der
Volksbefreiungsarmee getötet hatten, rächte sich ein chinesisches Kavallerieregiment in der Ortschaft Qiuji
Nawa in der Provinz Gansu
mit einer Attacke auf rund "200 unschuldige Frauen und Kinder. Sie
umzingelten ein Zelt, in das sie erst Handgranaten warfen und das sie dann mit
Gewehrsalven beschossen".
Der Autor
zitiert einen ehemaligen Soldaten, der ein solches Massaker miterlebt hat:
"Manchen Frauen wurde ein Säbel in die Vagina gestoßen und der Brustkasten
aufgespalten, manche zwei-, dreijährige Kinder wurden gepackt und in den Gelben
Fluss geschmissen."
Anfang der
achtziger Jahre musste die KP eingestehen, mit ihrer rabiaten Politik "den
Interessen des Volks schwer geschadet zu haben". Tibet war inzwischen
endgültig zur Unruheregion geworden. Pekings Behauptung, dass "Millionen
tibetische Bauern, die unter der Führung der Partei zu Herren in ihrem
Haus" geworden seien, entpuppte sich, so schreibt der KP-Funktionär, als Propaganda.
Für die
Unruhe und den Zorn der Tibeter gibt es nach seiner Ansicht viele Gründe: Die
langgehegte Hoffnung, der Dalai Lama könne eines Tages aus Indien, wo die
tibetische Exilregierung ihren Sitz hat, doch noch nach Hause zurückkehren,
schwindet. Peking verdammt ihn als "Verräter" und weigert sich, ihn
auch nur als Gesprächspartner anzuerkennen.
Ein Affront
für Peking war sein Auftritt vor US-Abgeordneten in Washington 1987, wo der
Dalai Lama einen "Fünf-Punkte-Friedensplan" vorstellte und unter
anderem forderte, die Zuwanderung von Han-Chinesen nach Tibet zu beenden und
keinen Atommüll mehr auf das Dach der Welt zu schaffen. Da, so der
KP-Funktionär, "wuchs bei jugendlichen Intellektuellen und einigen
Funktionären, bei Arbeitern, Bauern und Hirten ein neues oppositionelles
Bewusstsein heran".
Dann
unterlief den Chinesen 1988 noch ein Fehler: Zum Ende der alljährlichen
"Feier des Großen Gebetes" hatten sich hohe Funktionäre auf einer
Dachterrasse des Jokhang-Tempels von Lhasa versammelt, um von dort aus die große Prozession zu
beobachten. Dabei standen sie direkt über einem Zimmer, das die Mönche als
heilig erachteten: Der Dalai Lama hatte dort während dieser Feier stets
übernachtet.
Prompt
flogen Steine, Soldaten prügelten sich den Weg frei,
und einige Parteikader, unter anderen der Vize-Parteichef von Tibet, mussten
von Soldaten an Seilen aus einem Fenster herabgelassen werden.
In den
Wochen darauf gingen immer wieder Mönche und Nonnen auf die Straße, bis Peking
durchgriff: Die Zentralregierung setzte hohe tibetische KP-Funktionäre ab und
Han-Chinesen an ihre Stelle, einer von ihnen war der spätere Staats- und
Parteichef Hu Jintao. Der ließ ein Jahr später das
Feuer auf Demonstranten eröffnen. Nach Erkenntnissen des Autors starben dabei
138 Menschen, 3870 wurden verhaftet, viele andere verschleppt.
Der Autor
zitiert viele Augenzeugen. Einer berichtete: "Sie überprüften die gesamte
städtische Bevölkerung von Lhasa und verhafteten, wer
ihnen nicht passte. Erst gab es Prügel, dann flogen die Festgenommenen in die
Polizeizellen."
Die seien so
voll gewesen, dass Gefangene jämmerlich erstickten. "Wenn jemand
starb", so der Zeuge, "war das für sie (die Chinesen -Red.) nicht
mehr, als hätten sie im Gehen das Gras niedergedrückt und eine Ameise totgetreten."
Zur
Unzufriedenheit der Tibeter trug bei, dass chinesische Zuwanderer aus anderen
Teilen der Volksrepublik immer mehr Land kultivierten, was nach Ansicht des
Verfassers zu schweren Umweltschäden führt. Das Grasland schwinde, Wüsten
breiteten sich aus: "Der Lebensraum der Tibeter wird immer kleiner, das
Land immer kälter und härter."
Ein
augenfälliges Beispiel für den rücksichtslosen Umgang mit der Natur sei der Qinghai-See. Weil zu viel Weideland urbar gemacht und ein
umfangreiches Bewässerungssystem gebaut wurde, seien von den einst 108 Flüssen,
die sich in den See ergossen, nur noch 8 übrig.
Nach den
Unruhen von 1989 blieb es ein paar Jahre ruhig. Später versuchte KP-Chef Hu Jintao, die Tibeter mit Investitionen in Höhe von vielen
Milliarden Dollar zu befrieden. Zu wichtig waren den Chinesen die dort
entdeckten Rohstoffe und die strategische Bedeutung der Region - als Pufferzone
zum wirtschaftlich mächtigen Konkurrenten Indien.
In den
Straßen Lhasas ist die Spannung heute mit Händen greifbar.
Ein Grund sind die chinesischen Sicherheitskräfte, die sich wie Besatzer
aufführen. "Die Mitglieder der Bewaffneten Polizei verhalten sich
gegenüber Tibetern alles andere als menschlich, sie töten kaltblütig wie
Giftschlangen. Sie verprügeln die Einheimischen willkürlich, plündern und
bringen sie um, wenn sie sich wehren", schreibt der KP-Insider in seinem
Manuskript.
Im März
2008, als sich Peking auf die Olympischen Sommerspiele vorbereitete,
revoltierten die Bewohner Lhasas erneut. Dieses Mal
gingen die Proteste nicht nur von Mönchen aus, sondern auch von Schülern,
Studenten und Angestellten. Tibeter aus anderen Regionen schlossen sich an.
Polizei und Armee verhafteten rund 6000 Menschen.
Inzwischen
sehen die Behörden nur eine Möglichkeit, die Tibeter zu befrieden: mehr
Investitionen bei gleichzeitig schärferen Repressionen. Während der sogenannten
patriotischen Erziehungskampagne, die in allen Klöstern stattfindet, müssen
sich die Mönche vom Dalai Lama distanzieren. Viele wurden zeitweise oder ganz
aus den Klöstern verbannt, manche Lamas kamen in Umerziehungslager oder in
Haft. Vermeintliche Anhänger der verbrannten Selbstmörder wanderten ins
Gefängnis, allein sechs stammen aus dem Umfeld des Bauern Dorjee
Rinchen aus Xiahe.
Eine
öffentliche Debatte über Pekings Tibet-Strategie erlauben Pekings Herrscher
nicht. Nur wenige Chinesen wagen es, Denkanstöße zu geben, und dann allenfalls
in Hongkong oder über ausländische Medien. Der Schriftsteller Wang Lixiong, verheiratet mit der tibetischen Lyrikerin Tsering Woeser, ist einer der Mutigen. Er glaubt, dass sich nichts
ändern werde, solange Zehntausende Funktionäre im Propagandaapparat der Partei
sich ihren Lebensunterhalt mit der Feindschaft zum Dalai Lama verdienen. Der
tibetische Buchautor sagt es so: "Wir alle haben einen Knoten im
Herzen." Die Behörden "betrachten die Mönche als Außenseiter. Sie
dürfen ihre Meinung nicht sagen, geschweige denn teilhaben an politischen
Entscheidungen".
Gibt es
einen Ausweg aus der Misere? Falsch wäre es, da bleibt der Autor seiner
Erziehung treu, wieder einen theokratischen Staat zuzulassen, ein Tibet, in dem
Äbte regieren, in dem "Politik und Religion eins sind" - so wie es
viele Mönche haben wollen.
Die Alternative?
"Wir müssen Demokratie praktizieren", sagt er, "nicht unbedingt
eine westliche, sondern eine eigene, tibetische. Sonst bleiben wir in der
Sackgasse stecken."